„Leben ist Spiel & Spiel ist Leben“
Wandermarionettentheater - ein Massenmedium vor 100 Jahren
Aussagen:
„Um 1900 erreichten die Marionettenspieler in Sachsen mit ihren Vorstellungen
fast zwei Millionen Menschen im Jahr. Während in den Großstädten
Leipzig, Dresden und Chemnitz mit ihren 18.000 Sitzplätzen in den
festen Theaterbauten und geschätzten drei Millionen Besuchern das
Schauspiel mit Menschen dominierte, waren es in den Dörfern und
Kleinstädten die Marionettenspieler, die den Menschen das Theater
näher brachten.
Statistisch gesehen besuchte ein Sachse einmal im Jahr ein Theater und
alle zwei Jahre eine Marionettenbühne. Dabei waren 75% aller Theaterbesucher
Großstädter, fast 90% der Zuschauer im Marionettentheater
Landbewohner und Kleinstädter.“
(Quelle:„Volkstheater an Fäden“ I. Prolog, Olaf Bernstengel
und Lars Rebehn Mitteldeutscher Verlag 2007)
„Eine heute historische Spielweise, die im 18. Jahrhundert
entstand, hat in ihren wesentlichen Konventionen – Mobilität,
Emotionalität, Typisierung, Kulissenbühne – in einer
Handvoll Theatern bis in unsere Tage überlebt. Diese Kontinuität
kann keine andere darstellende Kunst für sich in Anspruch nehmen.
Weder die barocke Oper, die höfischen Ballette noch die Schauspielkunst
dieser Zeit haben sich bis heute erhalten. In diesen Genres wurden immer
wieder neue Ausdrucksformen gefunden, die sich rasch verbreiteten. Einzig
im Bereich Puppentheater blieb bei allem Suchen nach neuen Ausdrucksformen
vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das traditionelle
Spiel in Form des Marionettentheaters bestehen.
Das traditionelle Marionettentheater war zu Beginn des 20. Jahrhunderts
ein Massenmedium und ist einhundert Jahre später ein in Überresten
lebendiges, vor allem von der Theaterwissenschaft geachtetes Phänomen.
(Quelle: „Volkstheater an Fäden VII. Epilog“, Olaf Bernstengel
/ Lars Rebehn, Mitteldeutscher Verlag 2007)
1975 weist die Dramaturgin am Deutsch sorbischen Volkstheater
in ihrer Diplomarbeit zum Thema „Der Volksheld im 19. Jahrhundert
auf den Marionettenbühnen Sachsens“ darauf hin:
(Zitat) „Die Tradition unseres Marionettentheaters sind schon weitgehend
vergessen. Wir suchen heute verstärkt nach Impulsen für die
Arbeit unseres Puppentheaters und wir sind begeistert, wenn wir etwa
die hervorragenden Vorstellungen des traditionellen Marionettenspielers
Kopecky vom Puppentheater „Drak“ in Hradec Kralowe sehen.
Unsere traditionellen Marionettenspieler wären wahrscheinlich z.
T. noch in der Lage, unter entsprechender Anleitung ähnliche Leistungen
zu vollbringen. Bis jetzt sind sie jedoch ohne jede dramaturgische Beratung
und ohne Möglichkeit, sich einmal auszuprobieren. Sie können
sich einen Versuch nicht leisten, weil ein Misserfolg finanziell nicht
zu verkraften wäre. Es ist die höchste Zeit, die Traditionen
des altsächsischen Marionettentheaters vor dem endgültigen
Untergang zu bewahren.“
1990
verweist der Direktor der Puppentheatersammlung in den Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden ebenfalls darauf:
(Zitat) Das 19. Jahrhundert kann speziell für das Marionettenspiel als
die bedeutendste Zeit charakterisiert werden. Aufgrund der Industrialisierung
und ihrer soziokulturellen Folgen entwickelte sich ein quantitativ breites,
sich auf das barocke Hoftheater und die Trivialdramatik stützendes,
mobiles Theaternetz. Noch um 1900 reisten mehr als 150 Marionettentheater
durch Sachsen, die jährlich mehr als 20.000 Vorstellungen vor allem
in Kleinstädten und Gemeinden durchführten. Sie trugen wesentlich
dazu bei, daß sich sächsische Geschichte, sächsisches
Erzählgut und landestypische Verhaltensweisen in der Bevölkerung
verankerten, …
Heute reisen noch die Familie Kressig - Dombrowsky mit drei Bühnen,
das Erzgebirgische Marionettentheater Teddy Küchenmeister und Manfred
Sterl mit seinen Variete´- Marionetten durch das Land. .....
Die noch in Sachsen als ein Anachronismus des 20. Jahrhunderts fahrenden
Bühnen sind für Deutschland und Europa einmalig. Sie bedürfen
der moralischen, ästhetischen, aber auch der finanziellen Unterstützung.
Ihre Zukunft ist aufgrund der sich gegenwärtig verändernden
Lebensweisen stark gefährdet!
(Zitat Ende)
(Bemerkung: Heini Kressig verstorben 2003, Roswitha Dombrowsky verstorben 2005,
Manfred Sterl verstorben 2005, Kurt Dombrowsky verstorben 2008,
Teddy Küchenmeister verstorben 2009)
In seinem
1995 im Verlag der Kunst Dresden / Basel erschienenen
Buch “Sächsisches Wandermarionettentheater” schreibt
Dr. Olaf Bernstengel im Kapitel
(Zitat)
Heute: Die Familie Dombrowsky - Fischer - Wilhelm -- die letzten traditionell
reisenden Marionettenspieler Europas
Noch ist das traditionelle Wandermarionettentheater lebendig. Sicherlich,
die Überformung seiner Theaterkonventionen ist noch weiter fortgeschritten.
Doch die Familie Dombrowsky hält an der nun in 6. und 7. Generation
zu pflegenden Spielweise fest. Kurt und Roswitha Dombrowsky, geborene
Sterl, feierten im August 1993 natürlich auf der Reise ihr vierzigjähriges
Bühnenjubiläum. Sie führten das Geschäft des Großvaters,
Max Kressig in unsere Zeit, und sie verstanden es, das Interesse am
traditionellen Spiel ihren Kindern weiterzugeben.
.....Kurt Dombrowsky bleibt optimistisch, wenn er immer wieder betont,
die Variete´s um 1900 hätten es nicht geschafft, die Marionettentheater
zu verdrängen, dem Film sei das nicht gelungen und auch der wirtschaftlich
schwierigen Situation nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Sie haben dem
neu aufkommenden Fernsehen in den fünfziger Jahren und der repressiven
DDR- Kulturpolitik widerstanden und so werden sie auch in Zeiten der
Videotechnik und des Computers präsent sein und ihren Platz in
der Fülle von kulturellen Angeboten finden.
Kurt Dombrowsky übersieht die Gefahren, die sich mit der Tatsache
verbinden, daß seine Familie die letzte ist, die noch reist und
das traditionelle Spiel pflegt. Schnell könnte ihre Arbeit in eine
kulturelle Nische geraten, die von der Gesellschaft unbeachtet bleibt.
.... Die Dombrowskys verkörpern heute ein Stück sächsischer
Volkskultur, das in anderen Theatergenres längst nur noch per Programmzettel,
Foto oder in Künstlererinnerungen zu studieren ist. Insofern stellt
ihre Arbeit eine absolute Besonderheit dar, .....
(Zitat Ende)
(Bemerkung: Kurt Dombrowsky gab im Juli 2007 seinen letzten Auftritt und erlitt
14 Tage später einen Schlaganfall, am 11.05.2008 ist er verstorben,
sein Frau Roswitha ist bereits am 14.10.2005 verstorben)
1999 äußerte sich Dr. Gerd Taube, Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums
der ASSITEJ in Frankfurt/ Main in Bezug auf unsere vorgesehene Vereinsgründung.
(Zitat)
Ich glaube, dass es daher gut wäre, den Schwerpunkt der Arbeit
( des Vereins, oder welcher Körperschaft oder Privatperson auch
immer) weniger auf “Bewahrung und Erhaltung“ zu legen, als
vielmehr auf die Sicherung und Auswertung von Quellen (Dokumente, Spielweise,
Zeitzeugen etc.) ......Das so genannte „volkstümliche“
Puppenspiel kann nur im sozialen und soziokulturellen Kontext einer
Region und als Form kultureller Kommunikation verstanden werden. Es
ist gegen seine Geschichte und seine Tradition es im direkten Vergleich
mit dem bürgerlichen Kunstbetrieb und den ästhetischen Kriterien
bürgerlicher Kunst zu beurteilen. Daher plädiere ich sehr
dafür, das noch vorhandene Wandermarionettentheater unter musealen
Bedingungen zu konservieren, auch seine Spielweise und seinen Spielbetrieb.
………Ich plädiere für die Schaffung eines
den Arbeits- und Lebensbedingungen des sächsischen Wandermarionettentheaters
adäquaten Umfeldes für ein Projekt zur musealen Konservierung,
das sein wirtschaftliches Ziel vor allem in der touristischen Nutzung
und sein ideelles und praktisches Ziel in Bezug auf das Wandermarionettentheater
in dessen Konservierung und analytischer Auswertung haben sollte.
(Zitat
Ende)
Nicht zuletzt schreibt die “Osterländer Volkszeitung”
vom
16.01.2008 auf ihrer Kulturseite:
(Zitat:)
Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) hat sich dafür ausgesprochen,
„mehr Menschen an Kunst und Kultur heranzuführen“.
Die Zukunft der Kultureinrichtungen in Deutschland hänge
entscheidend davon ab,
„ob es uns gelingt, kulturelle
Bildung auf breiter Ebene zu verankern“ .
(Zitat Ende)
Gerade hier liegen im Theatersystem „Traditionelles Wandermarionettentheater“
Strukturen zu Grunde, die weit über ein Jahrhundert hinaus ohne
direkte Subventionen unzählige Theateraufführungen und damit
breiten Schichten den Erstzugang zu Theater, Literatur, Lokal- und Regionalgeschichte,
zu Musik und Sprache, zu Dichtung und Dramatik, zu Bildnerischer Gestaltung
zu Poesie und Phantasie eröffnete.
Sicher war es nicht der Hauptzweck dieser Theaterbetriebe,
jedoch sind die Ergebnisse zunächst für die Gesellschaft wertvoll
und Idealismus gehörte auch schon zu dieser Zeit als Triebfeder
dazu, um einen Theaterbetrieb aufrecht zu erhalten, denn von „reichen“
Wandermarionettentheatern ist nichts überliefert. Die „Wirtschaftlichkeitsprüfung“
war nicht die erste Prämisse, um sich zum Betrieb eines Theaters
zu entschließen.
Zum Beispiel gastierte
allein das Marionettentheater
von Kurt Dombrowsky von 1953 bis 1994 in 646 Gastspielorten, davon von
1959 – 1962 in 65 Gemeinden und von
1984
– 1988 in 60 Gemeinden des heutigen Thüringen, dazwischen
1981 in mehreren Gemeinden des damaligen Kreises Altenburg, der zum
Bezirk Leipzig gehörte. Das entspricht rund 1300 Theatervorstellungen
in Landgemeinden und Kleinstädten in Thüringen. Diese ca.
20 % der Tournee´orte, die auf das Gebiet Thüringens entfallen
werden ergänzt durch die restlichen Orte die sich auf Sachsen,
Sachsen- Anhalt und Südbrandenburg verteilen.
Weitere Wandermarionettentheater waren in Thüringen wirksam. Z.B.
die Marionettentheater Siegfried Pandel, MT Wagner- Liebhaber, MT Uwe
Dombrowsky, MT Johannes Fischer, MT Manfred Sterl, MT Harry Hänel.
Die Wohnorte der jeweiligen Theaterfamilien sind dabei unbedeutend,
jedoch waren ihre Auftrittsorte stets grenzüberschreitend im gesamten
Gebiet der drei mitteldeutschen Länder und Brandenburgs und führten
so zu einem hohen Versorgungsgrad mit ersten Theaterangeboten in den
ländlichen Gebieten.
Diese Strukturen zu überarbeiten und nutzbar zu machen
für eine bessere kulturelle Versorgung im ländlichen Bereich
ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe für ein solches Zentrum für
Wandermarionettentheater. In einem solchen Zentrum sollten sich die
Bereiche „Sicherung und Bewahrung“, „Auswertung und
Weiterentwicklung“, „Nutzbarmachung und Aus- und Weiterbildung“
miteinander verbinden.
Diese Gesamtaufgabe ist für einen kleinen Verein nur
in der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zu erfüllen. Dafür
ist ein Netzwerk von Partnerschaften zu formen, welches sich der Zuwendung
für die schwächsten Glieder des Gemeinwesens verpflichtet
fühlt. Jedoch
hat der Förderverein „Mitteldeutsches
Wandermarionettentheater“ e. V. bisher
Pionierleistungen
erbracht.
Dabei können neben dem Freistaat Thüringen auch
Sachsen und Sachsen- Anhalt und andere zukünftige Nutznießer
sein und sollten sich perspektivisch auch einbringen.
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